Gedenken an die Opfer der NS - Euthanasie
'Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist'

Wir wollen so vielen Opfern wie möglich ihre Identität wieder geben.


Als Alfred Karl Mertz am 29. Dezember 1918 das Licht erblickt, wohnen seine Eltern in der Cannstatter Neckarvorstadt, Burgstraße 46 C, der heutigen Hallstraße. Vermutlich hat Friedrich Mertz, sein Vater, der Eisengießer war, in einem der zahlreichen dortigen Industriebetriebe gearbeitet. Der Junge, einziges Kind seiner Eltern, sieht sich früh mit einem Leiden konfrontiert, über das er mit 13 Jahren einem Arzt diese Auskunft gibt: „Er merke die Anfälle immer, wenn sie schon da sind. Es komme dann solche Angst ‚wie in den Nerven‘ […]. Angst, weil immer die Buben ihn ausgelacht haben und ‚weil sie es nicht sehen sollen‘. Dann merke er, dass der Anfall kommt, und in diesem Moment merke er dann nichts mehr. Kein Schwindel, keine Sehstörung vor dem Anfall. Durch die Angst wisse er immer ganz genau, dass ein Anfall da war; aber ob es ein großer oder ein kleiner war, das wisse er nicht. Nach einem besonders schweren Anfall gleich Kopfschmerzen, in der Stirn beiderseits, auch Schmerzen im Rücken und Kreuz, sodass er dann nicht laufen könne. Sei dann unsicher, meint, er falle hin. Diese Unsicherheit dauere etwa eine Stunde, je nachdem der Anfall stärker oder schwächer war.“ Nach Anamnese, Lumbalpunktion und Spiegelung des Augenhintergrundes steht 1931 die Diagnose fest: Epilepsie. Es folgt eine Reihe kurzer Aufenthalte in der Kinderabteilung des Bürgerhospitals, bis Alfred schließlich 1934 in die Heilanstalt Liebenau aufgenommen wird und dort in der Landwirtschaft arbeitet. Sicher haben ihn dort keine Buben mehr ausgelacht, und vermutlich konnten die Schwestern seine Angst vor den unheimlichen Anfällen mildern. Aber dann kam das Jahr 1940 und mit ihm die neue, viel schlimmere Angst. Es war der Bevölkerung nicht verborgen geblieben und auch hinter die Anstaltsmauern gedrungen, dass in Grafeneck „unnütze Esser“ zu Tausenden umgebracht wurden. Fünfmal waren die berüchtigten grauen Busse schon in Liebenau gewesen, als sie am 2. Oktober 1940 auch Alfred Karl Mertz abgeholt und nach Grafeneck gebracht haben. Dort wurde er am selben Tag im Kohlenmonoxyd vergast. Erinnerungen an das Unheil der NS-„Euthanasie“ in der Liebenauer Anstalt hat Monika Taubitz in den frühen Achtzigerjahren zusammengetragen und dichterisch verarbeitet. In ihrer bewegenden Erzählung „Dort geht Katharina oder Gesang im Feuerofen“ hat sie Alfred Karl Mertz ein Pseudonym beigelegt und sich in die letzten 48 Stunden seines Lebens einzufühlen versucht:1 „Wenn ich auf der Liste stehe“, sagt Herbert S., „dann müsst ihr es mir sagen! Versprecht mir das! Ich werde nicht in den schwarzen Wagen steigen, sie sollen mich nicht dorthin bringen!“ Herbert geht von einer Schwester zur anderen und wiederholt seine beschwörende Bitte vor jeder einzelnen. „Werden Sie es mir sagen?“ „Oder Sie?“ „Geben Sie mir die Chance. Ich werde euch keine Ungelegenheiten machen. Ihr braucht mich nicht zu verstecken. Ich werde mich selber aus dem Wege räumen, wenn es soweit ist. Nur in den Wagen steige ich nicht. Ich habe Angst! Angst!“ schreit Herbert und zittert am ganzen Leibe. „Angst!“ schluchzt er leise vor sich hin, bevor er sich abwendet und sein Gesicht in den Händen verbirgt. […] „Ich habe Angst!“ schreit er noch einmal auf und läuft den Gang entlang, den langen Gang, der keinen Fluchtweg offenhält. Im Nachhall seines Schreis irrt er hin und her. Die Angst macht Jagd auf ihn. Er duldet jetzt kein Wort, das ihn aufhält, keinen Blick, der ihm mitleidig nachläuft. Er will allein sein. Allein in seinem Zimmer, dessen Fenster vergittert sind und ihn doch nicht schützen vor dem Zugriff einer gnadenlosen Gewalt. Im selben Augenblick, in dem die Tür ins Schloss fällt, empfindet er das Geviert des Raumes, das Gitter vor seinen Fenstern, die vier stürzenden Wände als furchtbare Bedrohung. Motorenlärm zwingt ihn zum Fenster. Ungläubig starrt er einem vorbeifahrenden Wagen nach. Doch sie werden wiederkommen. Das Nächste Mal, er weiß es ganz genau, das nächste Mal wird auch sein Name auf der Liste stehen, ebenso wie die Namen der anderen Epileptiker darauf standen, die bereits abgeholt worden sind. Doch ihn sollen sie nicht bekommen! Herbert reißt die Tür auf, er rennt hinaus, über den Gang, durchs Treppenhaus, eine stürzende Flut, die ihn mitreißt über die Schattengitter unter seinen Füßen hinweg.
Vor einer Tür hält er an, den Kopf lauschend vorgeneigt, trommelt er mit beiden Fäusten gegen das braune Holz. „Herr Direktor! Hören Sie mich? Ich bring‘ mich um, bevor ich mitfahre. Wenn ich auf der Liste stehe, dann müssen Sie es mir sagen! Hören Sie mich, Herr Direktor?“
Noch einmal trommeln seine Fäuste wild gegen die Tür, werden ganz frei von ihm, ganz unempfindlich gegen den Schmerz und unfolgsam gegen seinen eigenen Befehl, der ihnen Einhalt gebieten will. Seine Fäuste, zwei Trommler. Zwei Trommler, die ihm nicht mehr gehorchen.
Im nächsten Augenblick fällt ihn ein Anfall zu Boden, reißt ihm die Füße weg, wirft seinen Kopf gegen die schwere Eichentür. Er verliert das Bewusstsein, während sein zuckender Körper, von der Bevormundung seiner Sinne, seinem Widersacher, dem Geist, befreit, vergeblich zu entkommen sucht.
[…]
Herbert ist geflohen. Durch das Fenster, dessen Gitter er in übermenschlicher Kraft im Verein mit der Todesangst so weit auseinanderzubiegen vermochte, dass er seinen schmalen Körper zwischen den Eisenstäben hindurchzwängen und abspringen konnte. Schwester Notburga stürzt zum Fenster und blickt in den Garten hinunter, den der beginnende Tag bereits so weit erhellt hat, dass sie sich vergewissern kann, dass Herbert nicht besinnungslos und mit gebrochenen Gliedern zwischen den Sträuchern liegt. Trotzdem eilt sie durch das Haus und durchsucht den Garten. Nachdem sie sich von Herberts Flucht überzeugt hat, verständigt sie die anderen.
Die Wagen sind vorgefahren. Die Wärter springen ab und betreten soeben das Haus . Mit Liste und Kopierstift in der Hand treffen sie ihre Auslese. Ohne langes Federlesen greifen sie zu, treiben die verängstigten Wesen durch die Gänge, durchs Treppenhaus hinunter auf den Hof. Die Wagentüren sind weit geöffnet. Schon haben sich die Schwestern versammelt. Noch sind die letzten Namen nicht aufgerufen, noch ist der fehlende nicht bemerkt, sein Ersatzmann nicht bestimmt worden. Unruhig geht der Direktor auf und ab. Der hinzukommende Kaplan wird unauffällig unterrichtet. Die Schwestern bilden eine in nervöser Spannung gehaltene, ruhelose Versammlung.
Da tritt Herbert S. aus dem Schatten der Kirschbäume hervor. Er überquert den Hof und läuft ihnen entgegen. „Ich konnte es nicht tun“, sagt er, „denn ich musste daran denken, wen sie wohl an meiner Stelle nehmen würden. Ein anderer müsste dann für mich sterben. Bevor ich einsteige, möchte ich den Herrn Kaplan sprechen.“

 

Quelle:

[1] http://www.stolpersteine-cannstatt.de [Stand 31.03.2016]

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