Gedenken an die Opfer der NS - Euthanasie
'Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist'

Wir wollen so vielen Opfern wie möglich ihre Identität wieder geben.


Meine Tante Erna Kronshage habe ich nie kennengelernt. Sie wurde am 20. Februar 1944 im Alter von 21 Jahren, drei Jahre vor meiner Geburt, umgebracht. Wenigstens legen die Umstände ihres Ablebens diese Vermutung sehr nahe. 25 Jahre lang habe ich Informationen über die Opferbiografie meiner Tante gesammelt und kann heute Stück für Stück ein ziemlich genaues Bild von ihrem viel zu kurzen Lebensweg nachzeichnen.

Aus bruchstückhaften Erinnerungen und Aussagen meiner Mutter, ehemaliger Nachbarn, von Freunden und Verwandten sowie aus Urkunden und Akten konnte ich nach und nach die Geschichte der Erna Kronshage zusammensetzen, die das elfte und jüngste Kind der Familie Kronshage war. Innerhalb von nur 17 Monaten, zwischen Herbst 1942 und Frühjahr 1944, wurde die gesunde junge Frau zunächst als „schizophren“ diagnostiziert, dann zwangssterilisiert und schließlich in der sogenannten „Heil“anstalt in Polen umgebracht.
Ich habe viele Belege gesammelt, um diesen Leidensweg meiner Tante zu dokumentieren. Zudem habe ich ihre Geschichte in einem Gedenkblog im Internet (http://erna-k-gedenkblog.blogspot.com/) und einem 10-minütigen YOUTUBE-Video veröffentlicht, um an das grausame Unrecht zu erinnern und um besonders die jüngere Generation zu erreichen. Schon mehrfach habe ich vor Schulklassen und in einschlägigen Erzählcafés auf Einladung darüber berichten können.

In welchem Dilemma sich Erna Kronshage, eine hochintelligente, junge Frau, die die Schule mit einem Notendurchschnitt von 1,78 abgeschlossen hatte, befand, kann man anhand ihres Lebenslaufs deutlich machen: Als letztes Kind ihrer Eltern ist sie innerlich zerrissen gewesen. Als ihre zehn älteren Geschwister aus dem Haus bzw. zum Arbeitsdienst oder Militär eingezogen waren, lastete die Pflicht, den Eltern auf dem landwirtschaftlichen Gehöft bei der täglichen Arbeit zu helfen, in ihrer Stellung als „Haustochter“ allein auf ihr. Gleichzeitig wollte sie jedoch allmählich auf eigenen Füßen stehen.

Die für die jugendliche Entwicklung perspektivlose Kriegszeit und der erste Bombenabwurf des Zweiten Weltkrieges in Ostwestfalen bereits am 2. Juni 1940 (Kriegsbeginn war ja am 1. September 1939), bei dem in unmittelbarer Nachbarschaft eine Bekannte ums Leben kam, haben sie sicherlich entsprechend verunsichert und wahrscheinlich sogar traumatisiert. So ist der äußere Krieg auch zu einem inneren Krieg für Erna Kronshage geworden.

Daraus resultierte im Herbst 1942 eine spontane akute Verweigerungshaltung. Sie kam plötzlich ihren Aufgaben nicht mehr pünktlich nach und ging gegenüber den Eltern in den Widerstand – heute würde man sagen: „Null-Bock-Phase“ und „aufmüpfig sein“. Damals aber fragte ihre Mutter die sogenannte Braune Schwester als damalige Gemeindeschwester und Fürsorgerin von der NS-Volkswohlfahrt um Rat.
Daraufhin begab sich Erna Kronshage am 24. Oktober 1942 auf Rat der Fürsorgerin schließlich in die Hände der Ärzte der Provinzialheilanstalt Gütersloh, weil sie dort auch nach Meinung der Gemeindeschwester professionelle Hilfe erwarten konnte. Die Einweisung konnte damals aus formalen NS-juristischen Gründen nur unter der Bezeichnung „gemeingefährliche Kranke“ erfolgen, und deshalb wurde die Zuführung polizeilich durchgeführt.
Sofort am ersten Tag haben die dort tätigen NS-Psychiater eine „Schizophrenie“ diagnostiziert, die – damals ganz modern – mit Cardiazolschocks (Vorläufer-Therapie der späteren Elektroschocks) behandelt wurde. Alle zwei bis drei Tage löste man mit diesem Medikament epileptische Anfälle aus – 20 bis 30 pro Behandlungsserie, so wird es in der damaligen Literatur von den Fachärzten empfohlen. So ist die plötzliche Psychiatriepatientin Erna Kronshage eher ruhiggestellt, diszipliniert und in ihrem Willen gebrochen worden, als dass das „Krankheitsbild“ nach heutigen Maßstäben tatsächlich adäquat behandelt worden wäre. Weitere Therapiemaßnahmen im Zuge der damals „modernen“ „Aktiveren Krankenbehandlung“ in Gütersloh waren für Erna Kronshage nachweislich das Kartoffelschälen und die Gartenarbeit, die sie ja auch schon zu Hause als „Haustochter“ zu verrichten hatte – und gegen die sie sich dort spontan verweigert hatte.

Da „Schizophrenie“ im Sinne des NS-Gesetzes „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ als Erbkrankheit galt, sollte Erna Kronshage auf Antrag des Direktors der Provinzialheilanstalt Gütersloh zwangssterilisiert werden. Bis zuletzt versuchte ihr Vater, dieses Schicksal abzuwenden. Leider erfolglos. Am 4. August 1943 wurde sie nach Beschluss in zweiter Instanz des Erbgesundheitsobergerichtes Hamm zwangssterilisiert. Am 12. November 1943 wurde Erna Kronshage angeblich vornehmlich „aus Luftschutzgründen“ im Rahmen der „Sonderaktion Brandt“ (letztlich eine getarnte „wilde“ NS-„Euthanasie“-Aktion) zusammen mit 99 Schicksalsgenossinnen zur Gauheilanstalt im seit 1939 besetzten Polen nach Tiegenhof/Gnesen, 630 km von Gütersloh entfernt, verlegt. Am 20. Februar 1944 starb sie dort angeblich an „vollkommener Erschöpfung des Körpers“.
Inzwischen weiß die Forschung zweifelsfrei, auch belegt durch Zeugenaussagen in verschiedenen Nachkriegsprozessen, dass die Anstalt Tiegenhof ab 1939 zu einer der Vernichtungsanstalten, zuerst für die polnischen Insassen und dann für die „Verlegungspatienten“ aus dem deutschen Reichsgebiet, umgewidmet wurde.
Zum Zeitpunkt des Todes von Erna Kronshage wurden dort, wie in mehreren anderen Anstalten gerade im Osten (z. B. auch Meseritz-Obrawalde), jetzt dezentral geplant, die Patiententötungen durch eine von NS-Ärzten (besonders Prof. Dr. med. Nitsche) ausgeklügelte Kombination von „Hungerkost“ mit Fettentzug, einhergehend mit hohen Beigaben sedierender Medikamente, z. B. des Schlafmittels „Luminal“, weiter durchgeführt. Dies führte nach einer gewissen Zeit zur Auszehrung des Körpers und zu allgemeiner Erschöpfung.
Man kann also mit Sicherheit davon ausgehen, dass die genannte Todesursache in Erna Kronshages Sterbeurkunde – „allgemeine Erschöpfung" – die damals übliche Umschreibung einer geplanten und konsequent durchgeführten Tötung war, die damals mehrmals täglich, oft im Stundentakt, in den („sonder")standesamtlichen Urkunden der betreffenden Anstalten immer wieder so benannt wurde.

Die Leiche Erna Kronshages wurde auf Antrag der Eltern in die Heimat nach Senne II rücküberführt und nach 600 km langem Rücktransport per Reichsbahn-Güterwagen auf dem Friedhof in Senne II am 5. März 1944 beigesetzt.

 

Edward Wieand, 14. April 2011

 

Quelle:

[1] Gedenkort T4 [Stand 31.01.2017]

[2] Wikipedia [Stand 22.01.21]

[3] In Memoriam an Erna Kronshage [Stand 22.01.2021]

 

Mail an uns vom 10.01.2017:
ich möchte Sie herzlich bitten, neben der Nennung Erna Kronshages bei Ihren "Privaten Gedenkseiten" auch mit einer Kurzbiographie (siehe T4.eu) in den "Opfer-Biographien" aufzunehmen. Danke im voraus - mit lieben Grüßen
Edward Wieand

 

überarbeitet am 22.01.2021

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