Gedenken an die Opfer der NS - Euthanasie
'Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist'

Wir wollen so vielen Opfern wie möglich ihre Identität wieder geben.


Eugen Scheucher, Jahrgang 1875, durfte gegen Dienstleistungen eine Bühnenkammer in der Cannstatter Vorstadt bewohnen. Er putzte die Pferde, machte gelegentlich eine Fuhre und kehrte den Hof. Über diesen Hof ging er am 23. Juni 1932 in Strümpfen und stieg auf den Heuboden. Diese und andere Merkwürdigkeiten seines Verhaltens waren einem Fuhrmann, der ihn kannte, schon seit einigen Tagen aufgefallen. Als er ihn jetzt zum Herabsteigen zu bewegen versuchte, wurde er abgewiesen und bekam schließlich „ich suche meinen Tod“ zur Antwort.

Wäre dieses Vorhaben gelungen und Scheucher im gärenden Heu erstickt, die Nachwelt hätte vermutlich nie mehr von ihm gehört. Jedoch ging der Fuhrmann, um den drohenden Selbstmord zu verhindern, zur Polizei , die Scheucher daraufhin in Schutzhaft nahm. Die anschließenden Ermittlungen der städtischen Fürsorgerin bei den Wirtsleuten, bei einem früheren Arbeitgeber und bei einem Bruder sowie ärztliche Anamnesen ergeben bei manchen Widersprüchen im Detail das Bild eines immer tiefer ins Elend geratenen Menschen.

Unbekannt ist, welche Position Eugen Scheucher in der Geschwisterfolge einnahm, man weiß lediglich, dass seine zwei Schwestern an Kinderkrankheiten starben und zwei Brüder als Handwerker in Cannstatt lebten, Eisendreher der eine, Lackierer der andere. Die beiden scheinen sich um ihren Bruder nicht groß gekümmert, sondern den Dingen ihren Lauf gelassen zu haben. Von der Fürsorgerin befragt, erwähnt der Lackierer eine unehelich geborene, mittlerweile verheiratete Tochter, die von der Verwandtschaft großgezogen worden sei. Eugen habe sich seinem Kind nie zugewandt. Die Mutter sei bei der Geburt gestorben.

Eugen Scheucher selbst sprach bei seiner ersten Aufnahme ins Bürgerhospital von derselben Frau als seiner Jugendliebe, ohne das gemeinsame Kind zu erwähnen. Sie hätten sich sehr gut verstanden und sein Leben wäre sicher anders verlaufen, wenn er sie hätte heiraten können. Weiter berichtete Scheucher dem Arzt, er habe den Beruf des Eisendrehers erlernt und während der Lehrzeit Unterricht im Maschinenzeichnen genommen. Im Projektionszeichnen sei er Kursbester gewesen. Nach der Lehre habe er eine Stelle bei Daimler bekommen, sei aber nach einem halben Jahr entlassen worden, weil er montags nach einem Athletenfest nicht zur Arbeit erschien. Die Entlassungen wiederholten sich; einmal sei das Volksfest, dann ein Unfall die Ursache gewesen.

Nach dem Tod seiner Jugendliebe sei er in die Fremde gegangen und habe Gelegenheitsarbeiten angenommen, mal als Hafenarbeiter in Mannheim, mal in seinem Beruf. Das Volksfest habe ihn wieder nach Cannstatt gelockt, und auch hier wechselte er oft den Arbeitsplatz, ohne dass es jemals Streit gegeben hätte. „Zeitweise trank er auch, angeblich aber nie viel und nicht periodisch“, notierte der Arzt.

Zweifellos hat Alkohol zu Scheuchers Verelendung beigetragen. Bis zu seiner Lehrzeit sei Eugen der beste und netteste Junge gewesen, dann habe er getrunken und sei haltlos geworden, zitierte der Lackiererbruder den Familienvater. Alkohol könne er wenig vertragen, gaben seine Wirtsleute aus der Aachener Straße zu Protokoll. Schon ein oder zwei Schoppen Bier machten ihn betrunken, und das sei hin und wieder vorgekommen. Dabei sei er in keiner Weise bösartig, sondern sehr zurückhaltend.

Anders der Kohlenhändler der ihn rund drei Jahre als Hilfsarbeiter gegen 10 RM Wochenlohn beschäftigt hat: Scheucher habe von Anfang an und mit der Zeit immer mehr getrunken. Einmal habe man ihn heimfahren müssen, so „voll“ sei er gewesen. Kunden hätten sich über ihn beschwert, deshalb sei er entlassen worden. Wurde Eugen Scheucher an den Rand der Gesellschaft gedrängt oder hat er die Außenseiterrolle vielleicht gesucht?

Seine Wirtsleute nannten ihn einen „anständigen Kerl“, früher, in seiner Zeit als Eisendreher, sei er sogar „ein hochanständiger Mensch“ gewesen. Sein Arbeitgeber hat ihn als gutmütigen Menschen und manchmal recht guten Arbeiter geschildert. An einen guten Schüler erinnerte sich der Bruder und nannte Eugen bedürfnislos. Zufrieden wie ein Kind sei er gewesen, wenn man ihm etwas geschenkt habe. Das alles klingt eher nach Resignation und Bedauern als nach Ablehnung. Nach einem Sturz auf die Stirne habe er als Siebenjähriger sieben Wochen lang liegen müssen, teilte Scheucher dem Arzt im Bürgerhospital mit. Auch einen Anfall von Bewusstlosigkeit mit Schaum vor dem Mund und zerbissenen Lippen erinnert bei dieser Gelegenheit und datiert ihn in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Dieser Zustand habe sich nicht wiederholt, aber bei der Arbeit sei er manchmal geistesabwesend gewesen und habe nicht mehr gewusst was tun. So ähnlich müsse es einmal beim Schwimmen gewesen sein. Er sei über den Neckar geschwommen und fast drüben gewesen. Dann sei er anscheinend weggesackt, wisse aber nicht, wie das gegangen sei. Einmal sei er bei Nacht nur mit einem Hemd bekleidet am Neckar spazieren gegangen, wisse aber nicht, wie er wieder heimgekommen sei. Im Krieg habe er nach einer Impfung nachts Posten stehen müssen und im Fieber aus nächster Nähe einen Kameraden erschossen. Als man ihn an das Grab geführt habe, sei ihm die Erinnerung an das Geschehen erst wieder aufgestiegen. Man habe ihn zu zwei Monaten Festung verurteilt und später nur noch bei der Bagage verwendet. Als Fuhrmann habe er Ende der Zwanzigerjahre mehrere Unfälle erlitten. Einmal ging das Rad über den linken Ellenbogen, ein andermal sei ihm ein Bein abgefahren worden. Seit ungefähr zwei Jahren höre er Stimmen hinter sich …

„Unklarer Fall, epileptischer Ausnahmezustand?“, hält der Arzt nach der am 24. Juni 1932 erhobenen Anamnese fest. Vier Wochen später wird Eugen Scheucher entlassen, aber schon drei Monate später erneut für zwei Wochen aufgenommen. Zwei Jahre später versucht er sich mit einem Messer umzubringen. In schlechtem Gesundheitszustand wird er daraufhin zum dritten Mal ins Bürgerhospital gebracht. „Bekommt epileptische Anfälle, teilweise nicht ansprechbar“, heißt es jetzt, und folgerichtig wird Eugen Scheucher in die geschlossene Anstalt Weissenau verlegt. Hier verbringt er knapp fünf offenbar ereignislose Jahre, jedenfalls ist nichts Nennenswertes überliefert. Dann aber wird er am 9. September 1940 mit einem der berüchtigten grauen Busse nach Grafeneck „verlegt“ und dort am selben Tag vergast, drei Wochen vor seinem 65. Geburtstag.

 

Cannstatter Stolperstein-Initiative, Rainer Redies

 

Quelle:

[1] http://www.stolpersteine-cannstatt.de [Stand 04.04.2016]

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